Henryk M. Broder, Publizist

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Rede in der Augsburger Synagoge am 14.07.2011

Der jüdische Hauptmann von Köpenick

Meine Damen und Herren,

es gehört zum Ritual von Gedenkveranstaltungen, dass man den Verstorbenen lobt und seine Verdienste für die Gesellschaft würdigt. Im Falle von Mietek Pemper wird das niemand schwer fallen; er war ein Mensch mit einem scharfen Verstand, einem gütigen Herzen, einer verletzlichen Seele und vor allem: einem inneren Kompass, der vielen Zeitgenossen abhanden gekommen ist. Er wusste, was geht und was nicht geht, ohne dies im Einzelfall begründen zu müssen. Seine Haltung entsprang der altmodischen Regel: “Das tut man nicht!” bzw. “Das muss gemacht werden!” Wenn es so etwas wie eine deutsch-jüdische Symbiose gibt, was ich im allgemeinen eher bezweifle, dann war Mietek Pemper ihr bester Repräsentant. Vielleicht sogar der Letzte nach 1939. Er und seine Tugenden hatten den Holocaust überlebt. Das Deutsche an ihm waren seine Gradlinigkeit, seine Disziplin, seine Rationalität; das Jüdische die Art, wie er diese Tugenden praktizierte, nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck. Wenn es darum ging, Menschenleben zu retten, war Schwindeln nicht nur erlaubt, sondern ein moralischer Imperativ. Aber Mietek Pemper wäre nie mit dem Bus oder der Straßenbahn gefahren, was er aus Gründen der Sparsamkeit öfter tat, ohne einen Fahrschein zu entwerten. So etwas machte man nicht! Man könnte sagen: Pemper war, in der wichtigsten Phase seines Lebens, nämlich als Sekretär des KZ Kommandanten Amon Göth und als rechte Hand von Oskar Schindler, eine jüdische Ausgabe des Berliner Schuhmachers Friedrich Vilhelm Voigt, der als “Hauptmann von Köpenick” Geschichte geschrieben hatte. Nur dass Mietek Pemper für seine lebensgefährliche Köpenickiade mehr brauchte als eine Uniform und eine Handvoll gutgläubiger Soldaten, die der falsche Hauptmann von der Straße weg requiriert hatte. Der Boden, in dem Pemper verankert war, bestand aus zwei altmodischen Eigenschaften: Bildung und Zurückhaltung. Wobei Zurückhaltung nicht mit Bescheidenheit verwechselt werden sollte. Mietek Pemper war nicht bescheiden, es war nur nicht seine Art, sich selbst in das Rampenlicht zu rücken. Es kränkte ihn, dass er erst so spät “entdeckt” und sein Beitrag zur Rettung von Menschen nicht entsprechend gewürdigt wurde, bis schließlich ein amerikanischer Filmregisseur, der auch “Indiana Jones”, “Der weiße Hai” und “E.T.” gedreht hatte, auf ihn aufmerksam wurde. Im Jahre 2002 bekam er das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen, 2007 wurde er zum “Ehrenbürger von Augsburg” ernannt. Spät, vielleicht zu spät, um ihn darüber hinweg zu trösten, dass er den größten Teil seines Lebens in Einsamkeit verbracht hatte. Wenn er nicht arbeitete, dann grübelte er, und wenn er grübelte, dann wurden die Schatten immer länger. In einem der vielen Gespräche, die meine Frau mit Mietek Pemper geführt hatte, fragte sie ihn einmal, wie es ihm gehen würde. Die Frage war ernst gemeint, die Antwort auch: “Ach, wissen Sie, zu wenig Freude…” Mietek Pemper hatte Volkswirtschaft studiert, wofür man ein Diplom bekommt. Sein Studium Generale aber war das Leben. Es gab kaum etwas, das er nicht gelesen hatte, Geschichte, Literatur, Politik waren für ihn keine akademischen Kategorien, sondern präsentes Wissen im Alltag. Er konnte Gedichte von Julian Tuwim und Henryk Sienkiewicz aus dem Gedächtnis aufsagen; Hölderlin, Heine und Thomas Mann sowieso. Die “Korpuskel-Theorie” von Isaac Newton war ihm ebenso ein Begriff wie der “tendenzielle Fall der Profitrate” von Karl Marx. Hinzu kam ein geradezu photographisches Gedächtnis, das es ihm ermöglichte, sich an jeden Tag seines Lebens zu erinnern. Eine Unterhaltung mit Pemper war eine Zeitreise. Wie auf Knopfdruck konnte er sich und seine Zuhörer in das Krakau vor dem Krieg beamen, in das Lager von Plaszow oder in einen der Prozesse gegen Kriegsverbrecher in Nachkriegspolen, an denen er als Übersetzer teilgenommen hatte. Eine solche Erinnerung ist eine Gabe, sie kann aber auch ein Fluch sein. Für Mietek Pemper war es eher ein Fluch, zum einen, weil er so ungeheuer skrupulös war, dass er sich in jedes Detail, jede Fußnote verbeißen musste, zum anderen, weil ihn seine Erinnerung dazu verurteilte, in der Vergangenheit zu leben. Meine Mutter, die wie Mietek Pemper aus Krakau stammte und wie er eine Weile in Plaszow verbracht hatte, war eine Gefangene ihrer selbst. Sie bezog alles auf die Zeit im Lager. Servierte man ihr z.B. ein weich gekochtes Ei zum Frühstück, sagte sie: “Was hätten wir damals im Lager darum gegeben…” Kam das Abendessen zu spät auf den Tisch, klagte sie: “Genügt es nicht, dass ich im Lager hungern musste?” Es dauerte lange, bis ich begriff, dass sie gar nicht anders konnte, denn “das Lager” war der Bezugspunkt ihres ganzen Lebens. So war es auch bei Mietek Pemper, wenn auch auf eine intellektuell anspruchsvollere Art. Auch als erfolgreicher Unternehmer pflegte er einen äußerst minimalistischen Lebensstil. Warum gönnt er sich nichts, fragten wir uns, warum macht er nicht mal eine Reise nach Bad Wörishofen? Es war nicht Geiz, er konnte nicht. Sich etwas zu gönnen, wäre Verschwendung und Verrat gewesen. Verrat an denjenigen, deren Reise in einem Lager geendet hatte. Lange vor Hartz 4 unternahm er einen Selbstversuch und lebte von einem “Tagessatz”, den Experten als Existenzminimum für Sozialhilfeempfänger errechnet hatten. Das sei machbar, erklärte er uns beiläufig eines Tages, damals im Lager hätten die Menschen mit viel weniger auskommen müssen. Wie fast alle Überlebenden des Holocaust fragte sich auch Mietek Pemper jeden Tag, warum er überlebt hatte, er, und nicht die vielen anderen, die der Idee von einer judenreinen Welt im Wege standen. War es die Vorsehung? Der Wille des Allmächtigen? Die Möglichkeit, dass es der reine Zufall gewesen sein könnte, ließ Pemper nicht gelten. Das Überleben muss einen Sinn gehabt haben. Er hatte überlebt, um zu berichten, was passiert war. Um Zeugnis abzulegen von der Grausamkeit der Täter und von den Leiden der Opfer. Wie der Historiker Simon Dubnow, der kurz bevor er 1941 im Ghetto von Riga erschossen wurde, den anderen Juden zurief: “Schreibt alles auf!” Wie der Dokumentensammler Joseph Wulf, der Auschwitz überlebt hatte, um 1974 in Berlin Selbstmord zu begehen. In einem Abschiedsbrief an seinen in Paris lebenden Sohn beschrieb Wulf, was ihn in den Freitod getrieben hatte:
 „Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“ Als “Schindlers Liste” in die deutschen Kinos kam, waren die meisten Mörder längst nicht mehr am Leben, friedlich entschlafen. Deswegen konnte man ganz entspannt über die NS-Zeit reden, ohne sich dem Zorn der Erben der Firma Freisler oder der Nachkommen von Hans Globke auszusetzen. Pemper wurde zum Zeitzeugen befördert und zu Vorträgen an Schulen eingeladen. Ein Delinquent, bei dessen Hinrichtung der Strick gerissen ist, fühlte sich dazu verpflichtet, die Kinder und Enkel der Henker aufzuklären. Einmal kam Pemper von einem solchen Vortrag erschüttert zurück: Das Erste, was die Schüler von ihm wissen wollten, war, warum die Israelis die Palästinenser so behandeln würden, wie die Nazis die Juden behandelt haben. Aber er machte weiter, er sagte, es wäre ihm ein Anliegen. Dabei verfolgte er sehr aufmerksam, wie die Normalität wieder Einzug in Deutschland hielt. Wie ein als Antizionismus maskierter Antisemitismus vom linken Rand in die Mitte der Gesellschaft vordrängte, wie Haltungen und Meinungen wieder salonfähig wurden, die in ihm die schlimmsten Erinnerungen weckten. Dazu gehörte die versehentliche Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an eine antizionistische Agitatorin aus Tübingen, die für ihre Verdienste im Kampf um die Menschenrechte geehrt wurde. Dazu gehörte auch die fortwährende Debatte um das Existenzrecht Israels, hinter der er, völlig zu Recht, den Wunsch erahnte, Israel möge von der Landkarte verschwinden. Pemper wusste, dass der antisemitische Furor am 8. Mai 1945 nicht kapituliert sondern nur eine Verschnaufpause eingelegt hatte. Wohl wissend, wie wenig er ausrichten konnte, wollte er doch seinen Beitrag dazu leisten, dass dieser Furor nicht wieder die ganze Gesellschaft kontaminiert. Das war ehrenwert, ob es nützlich oder vergeblich war, können wir heute nicht beurteilen. Wir nehmen heute Abschied von einem Menschen. “Er war a Mensch” ist das Beste, das man auf Jiddisch über einen Toten sagen kann. “A Mensch” kommt ohne Adjektive aus. Was für ein Glück, das wir ihn gekannt haben. Schalom Chaver.

Veröffentlicht mit Genehmigung des Autors. Auch abgedruckt bei: http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/der_juedische_hauptmann_von_koepenick/


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